Wenn der Körper leiser wird – und plötzlich lauter spricht von Nora Ermattinger
- Catherine

- 17. Nov.
- 4 Min. Lesezeit
Vielleicht kennst du das aus deiner Yogapraxis: Du rollst deine Matte aus, kommst in die erste Asana – und plötzlich wird dein Atem flach. Oder deine Schultern wollen einfach nicht loslassen, obwohl die Übung sanft ist. Manchmal steigt auch eine Emotion hoch, die du gar nicht erwartet
hattest.
Was passiert da eigentlich? Warum reagiert dein Körper so – und was hat das mit deinem Nervensystem zu tun?
Dein Nervensystem: Ein innerer Kompass
Während du auf der Matte bist (und auch überall in deinem Leben sonst), läuft im Hintergrund ein komplexes System ab, das ständig bewertet: Bin ich sicher? Kann ich entspannen? Oder muss ich auf der Hut sein?
Das autonome Nervensystem reguliert all das, was du nicht bewusst steuerst – deinen Herzschlag, deine Atmung, deine Muskelspannung, deine Verdauung.
Es arbeitet in drei grundlegenden Modi:
Der Ventrale Vagus – Verbindung und Sicherheit
Wenn dein System signalisiert "alles ist gut", bist du entspannt, offen, verbunden. Dein Atem fliesst tief, deine Muskeln sind weich, du kannst loslassen. In diesem Zustand ist Heilung, Verdauung und
Regeneration möglich.
Der Sympathikus – Kampf oder Flucht
Sobald dein System eine Herausforderung wahrnimmt, schaltet es in Aktivierung. Dein Herzschlag beschleunigt sich, deine Muskeln spannen an, dein Atem wird schneller. Das ist der Zustand, in dem du reagieren kannst – kämpfen, fliehen, handeln.
Der Dorsale Vagus – Erstarrung und Shutdown
Wenn eine Situation zu überwältigend wird, fährt dein System herunter. Du fühlst dich wie eingefroren, taub, abgeschnitten. Dein Körper macht dicht, um dich zu schützen.
Was auf der Yogamatte passiert
Yoga lädt deinen Körper ein, in den Zustand der Entspannung zu kommen. Aber dein Nervensystem entscheidet, ob es sich das erlauben kann.
Vielleicht bist du in einer Rückbeuge – dein Brustkorb öffnet sich, dein Herzraum wird weit. Für dein Nervensystem kann das bedeuten: "Ich mache mich verletzlich." Wenn es gerade nicht sicher genug fühlt, spannt es reflexartig dagegen an. Oder du liegst in Savasana, eigentlich zur Entspannung gedacht. Aber statt zur Ruhe zu kommen, wirst du unruhig, dein Geist rast, dein Körper zuckt. Dein Nervensystem ist noch im Sympathikus –
es erlaubt sich nicht, loszulassen.
Manchmal passiert auch das Gegenteil: Du fühlst dich plötzlich schwer, müde, wie abwesend. Dein Körper geht in den dorsalen Zustand – er schaltet ab, statt sich zu entspannen. Körpergedächtnis: Was dein Körper speichert
Hier wird es interessant: Dein Körper erinnert sich. Nicht nur an Bewegungen oder Verletzungen, sondern auch an emotionale Erfahrungen.
Wenn du als Kind gelernt hast, dass es nicht sicher ist, verletzlich zu sein – dann speichert dein Nervensystem: "Herzraum öffnen = Gefahr." Auch Jahre später kann eine Rückbeuge im Yoga diese
alte Erinnerung aktivieren.
Wenn du viele Phasen von Stress oder Überforderung erlebt hast, bleibt dein Nervensystem möglicherweise in einer chronischen Aktivierung. Selbst wenn äusserlich alles ruhig ist, läuft innerlich der Alarmzustand weiter.
Und wenn du Erfahrungen von Überwältigung gemacht hast – Momente, in denen Kampf oder Flucht nicht möglich waren –, dann kann dein System gelernt haben, in Erstarrung zu gehen. Das zeigt sich dann vielleicht in einer tiefen Erschöpfung, die sich durch Ruhe nicht auflöst.
Die Weisheit deines Körpers
Das Entscheidende ist: All das ist keine Fehlfunktion. Es ist die Intelligenz deines Körpers, der versucht, dich zu schützen.
Dein Nervensystem reagiert auf das, was es gelernt hat. Es arbeitet mit den Erfahrungen, die du gemacht hast. Und manchmal ist es noch in alten Mustern unterwegs, auch wenn die Situation heute
eine andere ist. Wenn du merkst, dass dein Körper nicht entspannen kann, verkrampft ist, dass Gefühle hochkommen oder dass du dich plötzlich abgeschnitten fühlst – dann ist das keine Schwäche. Es ist Information.
Dein Körper zeigt dir: Hier ist etwas, das noch gesehen werden will. Hier gibt es alte Muster, die noch wirken. Hier ist ein Teil von mir, der lernen darf, dass es jetzt sicher ist.
Der Weg zurück in die Regulation
Die gute Nachricht: Dein Nervensystem kann lernen. Es kann neue Erfahrungen machen und neue Muster entwickeln.
Auf der Yogamatte beginnst du bereits damit. Jedes Mal, wenn du bewusst atmest und dein Körper merkt: "Ich bin sicher, auch wenn mein Brustkorb weit ist" – machst du eine neue Erfahrung. Jedes Mal, wenn du in der Anspannung bleibst und dann bewusst loslässt – zeigst du deinem
Nervensystem: "Ich kann vom Sympathikus in den ventralen Vagus wechseln."
Und manchmal braucht es noch mehr: einen Raum, in dem du dem, was hochkommt, vertiefter nachgehen kannst. Wo du verstehen lernst, warum dein Körper so reagiert. Wo du neue Wege findest, mit deinem Nervensystem in Kontakt zu kommen. Genau hier kann körperzentrierte psychologische Begleitung ansetzen – dort, wo Yoga die Tür öffnet, aber die Integration noch einen weiteren Schritt braucht.
Dein Körper als Wegweiser
Ob auf der Yogamatte oder darüber hinaus: Dein Körper spricht mit dir. Nicht in Worten, sondern in Empfindungen, Spannungen, Emotionen.
Wenn du lernst, diese Sprache zu verstehen – wenn du merkst, in welchem Zustand dein Nervensystem gerade ist und was es braucht –, dann eröffnen sich neue Möglichkeiten.
Du musst dich nicht überwinden. Du darfst verstehen. Du darfst deinem Körper zeigen, dass es jetzt sicher ist, auch wenn es früher möglicherweise einmal anders war. Das kann der Beginn sein von wirklicher Veränderung.
Nora Ermatinger ist psychologische & sexologische Beraterin im Yotree Yoga & Therapie in Zürich und arbeitet körperzentriert mit Menschen, die ihre innere Balance wiederfinden möchten oder in Krisen stecken.
In ihrer Praxis Du begleitet sie unter anderem bei Themen wie Nervensystem-Regulation, chronischen Verspannungen, Ängsten, sexuellen Problemen und der Verbindung zum eigenen Körper.
Mehr erfahren: www.praxis-du.ch | Psychologische Beratung Zürich





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